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Ich schreibe meine Texte recht schnell und dann doch wieder sehr langsam. Denn jedes Mal, wenn ich eine Seite am nächsten Morgen lediglich noch einmal lesen will, um den nächsten Teil eines Textes zu schreiben, vergesse ich nach drei Sätzen mein eigentliches Vorhaben und beginne, den eigentlich schon fertigen Absatz neu zu formulieren, zu präzisieren und schöner zu machen als er vorher war. Statt weiter zu schreiben, verliere ich mich im Redigieren.

Vielleicht schaffe ich es gerade nicht, das erst dan zu tun, wenn die erste Fassung des Texts ganz fertig ist, da ich an der freien Autorinnenschaft vermisse, dass ich mich kaum noch mit den Texten von anderen beschäftigen darf und an ihnen arbeiten kann. Als Redakteurin habe ich das immer gern getan: Nicht nur selbst schreiben, sondern auch gemeinsam schreiben. Redigieren ist für mich ein anderes Lesen, als wenn man einfach nur ein Buch liest. Man kommt den Texten und auch den Autor_innen näher. Es ist für mich eine sehr wohlwollende Art des Lesens, gemeinsam mit den Autor_innen an den Texten zu feilen und ihnen dort zu helfen, wo sie allein nicht weiterkommen. Sich selbst zu redigieren erreicht nur ein Bruchteil von dem, was das gemeinsame Schreiben erreicht. In meinen eigenen Texten erkenne ich am Morgen oft, dass ich viel zu müde war und diverse Knoten in den Text gewoben habe, statt ihn weiter zu bringen, sodass die redaktionelle Arbeit mit mir selbst vor allem die Diskussion beinhaltet, nicht immer erst um Mitternacht ins Bett zu gehen. Noch ist die Autorin uneinsichtig. Sie leidet an Revenge Bedtime Procrastination (Öffnet in neuem Fenster)

Da ich mich gern durch fremde Texte wühle, kann ich die Brille des Redigieren-Wollens nur schwer absetzen, wenn ich auf schon fertige Texte schaue. Wahlprogramme zum Beispiel. Texte, die im Politikbetrieb für Wahlkämpfe entstehen, sind ein eigenes Genre. Sie sind kein wissenschaftlicher Text, kein journalistischer, keine Prosa und auch kein Rede-Manuskript, bei dem an einzelnen Stellen geklatscht werden soll. Wahlprogramme wollen sachlich klingen und gleichzeitig den spezifischen Ton einer Partei treffen. Sie wollen lockerer klingen, als Politik ist. Sie müssen versuchen, wie ein Text aus einer Feder zu klingen, obwohl viele Menschen an ihnen gearbeitet haben und Passagen zusammengefügt wurden. Sie versuchen breit und konkret sein. Sie wollen die eigenen Ideen anpreisen, selbstbewusst klingen, müssen aber gleichzeitig die Konzepte der anderen abwerten, damit die Wähler_innen bloß nicht in Versuchung kommen, ihr Kreuz an einer anderen Stelle zu setzen. Man darf die Konkurrenz in einem Wahlprogramm nicht zu stark angreifen, damit die Leser_innen nicht denken, die anderen seien eine ernstzunehmende Konkurrenz. Die Texte müssen erklären, dass eine Partei schon immer den Plan hatte und gleichzeitig Ideen einflechten, die so neu sind, dass die Leser_innen vor dem Text sitzen und ausrufen: „Ja, das ist es!“

Wahlprogramme wollen verlässlich klingen, aber auch modern, energiegeladen und sympathisch. In anderen Worten: Ein Wahlprogramm zu schreiben ist konzeptionell und stilistisch die Hölle. Wer auf diese Dinge als Leser_in Wert legt, braucht starke Nerven, Nachsicht und Humor. Als Autor_in eines Wahlprogramms darf man vor allem nicht eitel sein. Wenn das Dokument fertig ist, braucht man mindestens einen Schnaps und eine Woche lang Urlaub in einem Funkloch. Ich beneide die Autor_innen nicht.

Beim Wahlprgramm der Union, das am Montag veröffentlicht wurde, fand ich besonders interessant, welche Worte und Sätze im veröffentlichten Programm neu hinzugekommen waren oder fehlten im Vergleich zu dem Programm-Entwurf, der ein paar Tage vorher kursierte. Insbesondere in der Einleitung war die Schwerpunktsetzung verändert worden. Im Entwurf der CDU standen zunächst Sätze wie „Nachhaltigkeit ist die Grundlage unseres politischen Handelns“ (zum einen: naja…? zum anderen: eine ziemlich leere Floskel) und auch der Satz „Wir verbinden Ökonomie und Ökologie – mit Innovation statt Ideologie, mit Anreizen statt Verboten“, was in diesem Entwurf gleich zu Beginn klar machte, dass die Union die Grünen als ihre größte Konkurrenz sieht und sie mal wieder als Verbotspartei labeln wollte.

Im nun veröffentlichten Programm steht nicht das Thema Ökologie im Vordergrund, sondern Selbstbewusstsein. Für den finalen Entwurf, mussten die Autor_innen noch einmal alles geben. Gleich im zweiten Absatz heißt es: „Denn klar ist: Wir können nicht zaubern, aber wir können und wir wollen arbeiten und gestalten.“ Da bin ich ja beruhigt, dass Armin Laschet keine Hexe ist und statt dem Zauberstab und dem Besen weiterhin auf Akten und Videokonferenzen setzen wird. Den Hinweis darauf, dass die Union nicht zaubern kann, könnte man auch interpretieren als vorweggenommene Entschuldigung dafür, dass die Vorschläge aus dem Programm nun doch nicht finanzierbar sind, dass die Ziele des Pariser Klima-Abkommens verfehlt werden und im Herbst leider eine weitere Covid-19-Welle durch Deutschland rollt. 

Wir werden uns viel verzeihen müssen, weil wir nicht zaubern können.

Im nächsten Absatz folgt gleich ein weiterer schöner Satz: „Erfolg ist kein Schicksal, sondern das Ergebnis harter Arbeit“, zu dem diejenigen, die sich schon länger mit ökonomischer Ungleichheit und struktureller Diskriminierung beschäftigen, nur müde gähnen können. Nein, ein Schicksalsschlag ist Erfolg eher nicht, aber er wird vor allem ermöglicht von allerlei Privilegien, an die harte Arbeit in der Regel nicht heranreichen können. Im Bewusstsein, dass sich gerade mehrere Bundestagsabgeordnete, die danach ihr Mandat zurückgaben sowie weitere Menschen aus dem Unionsumfeld, mit sehr wenig Arbeit über Provisionen für Schutzmasken (Öffnet in neuem Fenster) sehr reich geworden sind, liest sich dieser Satz auch ein wenig schräg. „Erfolg“ und Korruption liegen manchmal nah beieinander.

Ein weiterer schöner Satz aus dem Programmm, der sich für Gedichtsinterpretationen im Deutsch-Abitur eignen würde: „Dabei stürmen wir nicht blind ins Morgen, sondern halten Maß und Mitte.“

Die Wahlprogramme anderer Parteien sind sprachlich natürlich ebenso interessant, besonders das der FDP. Dort wird vor allem nicht mit Übertreibungen gegeizt und das Programm ist gleich überschrieben mit „Nie gab es mehr zu tun“ und man liest an anderer Stelle „ … Die Grundlage dafür ist Freiheit. Nie war sie wichtiger!“ Die FDP, in deren Politik es grundsätzlich immer um Freiheit gehen soll, hat also festgestellt, dass ihr Kernthema jetzt noch einmal wichtiger ist als vorher schon? Ist die Bedeutung von Freiheit überhaupt steigerungsfähig? Man sollte in Wahlprogrammen jedenfalls nicht zu komplex argumentieren, so viel steht fest.

Bei der FDP fällt zudem auf, dass sich Metaphern der sportlichen Selbstoptimierung durch die Sprache des Programms ziehen. Die Kritik an den vorigen Regierungen lautet zum Beispiel: Das „Ergebnis war eine Politik, die unseren Staat satt und träge gemacht hat, statt schlank und stark“. Kapitel 1 ist überschrieben mit „Nie war es notwendiger, fit zu werden“ und sogar die Rente soll „enkelfit“ werden. Ein Wahlspot mit Detlef D! Soost wäre also nur konsequent und Christian Lindner sollte sein Instagram-Konzept so langsam mal um Fotos in Lauf-Tights ergänzen, damit Bildsprache und Programm zusammenpassen.

Aber noch mal kurz zurück zum Programm der Union. Da ich in den nächsten Wochen auf Twitter immer wieder Threads schreiben werde, in denen ich die Vorhaben der Parteien zu ausgewählten Themen vergleiche (für Schwangerschaftsabbrüche und die Unterstützung bei Kinderwunschbehandlungen habe ich das schon getan), durchsuche ich die Programme nach Stichworten. Als ich den Entwurf des CDU-Wahlprogramms nach „Hebammen“ und „Geburtshilfe“ durchsuchte, gab es null Treffer. 

Vielleicht ist das nur konsequent, da die CDU gerade den Gesundheitsminister stellt, der für Verbesserungen in der Geburtshilfe zuständig ist, aber in vier Jahren kaum etwas erreicht hat. Nach wie vor finden Schwangere nur schwer eine Hebamme für Vorsorge, Beleggeburt und Wochenbett, viele müssen tatsächlich ohne Hebamme im Wochenbett auskommen. Gesundheitlich ist das absolut bedenklich, da Hebammen als medizinisch ausgebildetes Personal früh erkennen können, wenn ein Baby ärztlich behandelt werden sollte oder die Mutter Komplikationen im Wochenbett hat. Wie bei anderen gesundheitlichen Problemen ist hier eine Früherkennung wichtig und kann schlimmere Erkrankungen oder langwierige Behandlungen vermeiden. Prävention ist langfristig auch wirtschaftlich die bessere Wahl. Dass es derzeit in Deutschland nicht genügend Hebammen insbesondere für die Nachsorge im Wochenbett gibt, sollte eigentlich ein gesundheitspolitischer Skandal sein.

Warum fehlten also die Hebammen im Programmentwurf der CDU, wenn es an anderer Stelle lautet: „Familien sind die Keimzellen unserer Gesellschaft“? Dieser schreckliche Satz hat es übrigens nicht in das finale Programm geschafft, statt „Keimzelle“ sind Familien dort nun „die Leistungsträger unserer Gesellschaft“. Nun ja, so viel empathischer klingt das auch nicht.

Meine Vermutung ist, dass den Teil zur Gesundheitspolitik im Programm eine Gruppe formuliert hat, die das Thema nicht auf dem Schirm hatte (seufz), aber dann bis zur Veröffentlichung des finalen Programms das Fehlen der Hebammen entweder einer Person aus der Partei aufgefallen ist oder Organisationen, die sich für Verbesserungen in der Geburtshilfe einsetzen, sich noch einmal darum bemüht haben, dass das Thema aufgegriffen wird. Aber Achtung, wie das Thema nun im Programm abgebildet wird, ist hanebüchen. Die Hebammen tauchen nun auf in folgender Formulierung:

„Wir sorgen dafür, dass alle Bürgerinnen und Bürger einen digitalen, wohnortnahen und möglichst barrierefreien Weg, zum Beispiel zur Haus-, Fach-, Zahnarzt- und Notfallver- sorgung, zu Apotheken, Hebammen, Physiotherapeuten, Gesundheitshandwerken und Sanitätshäusern haben.“

Dieser Satz stand fast genauso im Programmentwurf und lautete dort:

„Alle Bürgerinnen und Bürger müssen einen digitalen, wohnortnahen und möglichst barrierefreien zur Haus-, Zahnarzt- und Notfallversorgung, zu Apotheken, Physiotherapeuten, Gesundheitshandwerken und Sanitätshäusern haben.“

Die Hebammen wurden also absolut lieblos und ohne Konzept, das über Copy-Paste eines Begriffs hinausgeht, dem Programm beigefügt. Als einzelnes Wort in einen bereits existierenden Satz geschoben. An einer Stelle, die nicht wirklich sinnvoll ist. Schließlich ist es für die Wochenbett-Versorgung notwendig, dass die Hebammen zu den Familien kommen, nicht umgekehrt. Familien brauchen keinen barrierefreien Weg zu Hebammen hin (wenn, dann beim Rückbildungskurs), aber die Hebammen müssen für Hausbesuche besser bezahlt werden und mit einer politischen Strategie im Beruf gehalten wrden. 

Es wäre eine deutliche Verschlechterung der Versorgung, wenn sich Eltern in Zukunft öfter zu Hebammen hin bewegen müssten, statt umgekehrt. Leider gibt es in der Gesundheitspolitik genau solche Ideen, die in die Richtung gehen, dass Hebammenpraxen die Hausbesuche irgendwann ersetzen könnten. Das wäre eine Idee, um Kosten zu sparen, aber keine, um bessere gesundheitliche Ergebnisse zu erzielen und Eltern zu unterstützen. Und eine digitale Beratung durch Hebammen, wie es der oben zitierte Satz andeutet, sollte nur Ergänzung zu echtem Kontakt sein. Jemandem, der schon mal ein Baby bekommen hat, muss man das nicht erklären, aber ich versuch es mal so: Geburtsverletzungen per Zoom untersuchen? Das Baby in einer Salatschüssel selbst auf der Küchenwaage wiegen? Per Video-Anweisung der Stillenden dabei helfen, wie sie eine bequeme Position findet und ihr erklären, wie sie sich den Bauch für die Rückbildung am besten selbst massiert?

Was Hebammen übrigens ganz fantastisch machen, wenn sie zum Hausbesuch im Frühwochenbett kommen, ist den Partner_innen zu erklären, wie sie das Baby pflegen, damit die Person, deren Organe sich gerade neu ordnen, die Blut verloren hat und vielleicht sogar eine OP hinter sich hat, das Bett nach Möglichkeit erstmal nicht verlassen muss und sich so wenig wie möglich anstrengt. Wochenbett bedeutet im Idealfall Regeneration, Erholung und viel Unterstützung. Daher sollte nicht nur jede Familie eine Hebamme haben, die zu Hausbesuchen kommt, sondern mindestens ein erwachsenes Familienmitglied oder Freund_innen mehrere Wochen lang freihaben und Zuhause ALLES übernehmen, um diese Erholung zu ermöglichen. Deswegen ist widerspricht es auch dem „Mutterschutz“, dass es bislang für Partner_innen keine bezahlte Freistellung von mindestens zwei Wochen gibt, besser acht (solange dauert das Wochenbett), damit das Wochenbett keine zusätzliche gesundheitliche Belastung darstellt, weil das andere Elternteil direkt wieder arbeiten geht und Zuhause nur wenig unterstützt.

Ergebnis dieses kurzen Rants: Die Hebammen haben es irgendwie doch noch ins Programm der Union geschafft, aber auf welche Weise, ist ein grotesker Witz. Besser kann die Union kaum zeigen, dass sie das Thema vergessen hat, gerade keine Person findet, die es fachlich angemessen in zwei oder drei Sätzen hineinschreiben könnte und zudem kein Geld einplanen will, um die Geburtshilfe zu verbessern. Unter welchen Bedingungen Kinder geboren und Menschen Eltern werden, scheint den Christdemokrat_innen aktuell ziemlich egal zu sein, auch wenn die Autor_innen noch folgende Floskel ins Programm gebaut haben: „Familienfreundlichkeit ist Markenzeichen einer jeden unionsgeführten Bundesregierung.“ Familienfreundlichkeit fängt wohl irgendwann später an als bei Schwangerschaft und Geburt.

Noch eine letzte Beobachtung. Im Progammentwurf der CDU hieß es zunächst: 

„Verheiratete Eltern mit Kindern, Patchwork-Familien, allein und getrennt Erziehende und Regenbogenfamilien: Familien setzen sich unterschiedlich zusammen, aber sie alle stehen vor ähnlichen Herausforderungen in Gesellschaft und Arbeitswelt.“ 

Dieser Satz ist nun im finalen Programm nicht mehr enthalten, vielleicht ja deswegen, weil es keine Programmpunkte gibt, die sich an Regenbogenfamilien richten und es daher absurd war, sie überhaupt im Programm zu nennen, weil es so fluffig klingt. Ob die Herausforderungen für alle Familien ähnlich sind, darüber müsste man ohnehin streiten. Stichwort: Stiefkindadoption, die lesbische Mütter auf sich nehmen müssen.  Alleinerziehenden-Armut. Und und und. 

Aber schön, dass in den letzten Tagen diverse konservative Politiker_innen so taten, als würden sie sich nachts mit einer Regenbogenfahne zudecken und nur die UEFA und die ungarische Regierung hätten ein Problem mit LGBTIQ*-Feindlichkeit. Der CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak schrieb auf Twitter: „Es ist falsch und enttäuschend, dass die Regenbogenbeleuchtung der Allianz-Arena verboten wurde.“ 

Die Union fühlte sich mit dem Regenbogen jedenfalls so unwohl, dass er die letzte Bearbeitung des Programms nicht überlebte und gelöscht wurde. Im Programm der Union gibt es keinen einzigen Satz zu queerpolitischen Themen. 

Das ist falsch und enttäuschend. 

Bis zum nächsten Mal
Teresa

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Literatur-Tipp

Wer wirklich zaubern lernen möchte, dem empfehle ich das neue Buch von Christiane Frohmann vorzubestellen, das demnächst erscheint „Präraffaelitische Girls erklären Hexerei“ (Öffnet in neuem Fenster).

Veranstaltungs-Tipp

„carat - caring all together“ (Öffnet in neuem Fenster). Eine Veranstaltungsreihe der Universität Bremen zur Bewältigung der Care-Krise. Auftakt am 28. und 29. Juni. Virtuell und kostenlos.

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