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Lessings Katze

Über eine Begegnung in Wolfenbüttel und eine Lesung in Kamenz, über eine Arche Noah auf zwei Beinen und den Katzensprung zwischen Taufstein und Totenmaske

Lessings Katze

Neulich in Wolfenbüttel stand ich in dem Haus, in dem Lessing den „Nathan“ geschrieben hat. Ich zog eine Schublade auf und sah eine Locke von seinem Kopf; ich zog eine andere Schublade auf und betrachtete die Totenmaske. Dann zog ich noch eine Schublade auf, darin lag eine Zange.

Ich las, daß Lessing mit seiner hochschwangeren Frau Eva, geborene König, kurz vor Weihnachten 1777 in dieses Haus gezogen war. Am ersten Weihnachtstag kam ihr Sohn zur Welt – mit einer solchen Zange ins Leben geholt. Am übernächsten Tag starb er. Keine drei Wochen später starb auch die Mutter.

„Ich wollte es auch einmal so gut haben wie andere Menschen“, schrieb Lessing an seinen Freund Eschenburg. „Aber es ist mir schlecht bekommen.“

Die Sonne schien durchs Fenster. Der Himmel war wolkenlos. Aber ich dachte an Lessings Kind und seine tote Frau.

Wie ich aus dem Haus kam, war da plötzlich die Katze. Sie lag auf einem Stein, wie um sich zu sonnen, und musterte mich neugierig. Ich ging weiter; und als ich mich noch einmal umdrehte, da sah ich, daß sie mir folgte.

Ich überquerte den Schloßplatz und bog in eine Gasse ein, ging durch ein paar Straßen, und immer war die Katze hinter mir. Ging ich schneller, ging auch sie schneller; blieb ich stehen, rührte sie sich nicht vom Fleck. Es war wie ein Spiel. Es brachte mich auf andere, fröhlichere Gedanken. Aber ich dachte auch: Hoffentlich läuft sie nicht in ein Auto, wenn ich über die Straße gehe.

Dann sah ich die Buchhandlung, und weil ich an keiner Buchhandlung vorbeigehen kann, ging ich hinein. Ich stöberte in den Regalen – und hielt auf einmal ein Buch über Lessings Wolfenbüttel in der Hand. Das kaufte ich, und als ich aus dem Laden trat, war die Katze fort.

Ich hatte nicht mehr viel Zeit und machte mich auf den Weg zum Bahnhof. Doch immer wieder blickte ich mich suchend um, ob nicht doch irgendwo ... Nein, sie war wirklich fort.

Im Zug schlug ich das Buch auf, und es vergingen keine fünf Minuten, da hatte ich die Katze vergessen. Ich las, daß Lessing bald nach dem Tod seiner Frau den „Nathan“ geschrieben hatte. Und dann, ich traute meinen Augen nicht, las ich, woran sich Lessings Stieftochter Amalia, genannt Malchen, Jahrzehnte später erinnerte:

„Seine Einsamkeit teilte mit ihm nur sein treues Kätzchen, welches gewöhnlich auf seinem Arbeitstische Platz nahm, und einst, krank wie sein Herr, das kostbare Manuscript des ‚Nathan‘ beschmutzte, ohne daß sich der Dichter die Mühe des abermaligen Abschreibens verdrießen ließ.“

Als ich aus dem Fenster blickte, verschwanden am Horizont die letzten Häuser von Wolfenbüttel. Aber was ich noch viele Stunden später sah, war Lessings Katze.

Es ist schon wieder eine Weile her, daß ich in Kamenz war. Dem Kalender nach war es noch Winter, aber als ich in der Frühe erwachte, hörte ich die Vögel singen.

Das Lessing-Museum hatte mich zu einer Lesung eingeladen, ganz unverhofft, und das gab mir Gelegenheit, einmal wieder durch die Gassen der Stadt zu gehen, in der im Januar 1729 Gotthold Ephraim Lessing geboren wurde. Das Haus gibt es nicht mehr, aber in der Marienkirche steht noch der Taufstein, an dem sein Großvater ihn getauft hat. Als ich im Pfarramt fragte, schloß mir der hilfsbereite Diakon die Kirche auf und zeigte mir den verwitterten Stein und die Epitaphe von Lessings Eltern und Großeltern.

Erst letztes Jahr hatte ich an Lessings Grab gestanden, auf dem Magnifriedhof in Braunschweig. Auch Johann Joachim Eschenburg liegt dort, der Shakespeare-Übersetzer und Freund, an den Lessing nach dem Tod seiner Frau schrieb. Und vor vier Jahren war ich in Wolfenbüttel in dem Haus gewesen, in dem er die letzten Jahre seines Lebens gewohnt hatte, nur ein paar Schritte von der Herzog August Bibliothek entfernt.

Viel gab es nicht zu sehen. Die wenigen Ausstellungsstücke lagen in verglasten Schubladen, die man aufziehen mußte, um ihren Inhalt zu betrachten. Man tat das so andächtig, wie im Mittelalter ein Mönch eine Reliquie beäugte. Hätte die Geburtszange hinter der staubigen Scheibe eines Antiquitätenladens gelegen, zwischen alten Büchern und Gerümpel, wäre sie mir nicht aufgefallen. Aber hier stand ich minutenlang davor.

Später, als ich in einem halbleeren Zug durch die Dämmerung fuhr, holte ich ein Blatt Papier heraus, faltete es, nahm das Buch, in dem ich gelesen hatte, als Unterlage und fing an, ein paar Sätze zu notieren.

Einige Tage darauf schrieb ich die kleine Geschichte.

Das war im Februar 2020, nur wenige Wochen, bevor die Pandemie alles zum Stillstand brachte. In dieser Zeit sah ich manchmal das stille Haus in Wolfenbüttel vor mir. Vor allem die Zange ging mir nicht aus dem Kopf.

Der Gedanke an sie hatte etwas Schmerzliches, und ich bemühte mich, ihn fernzuhalten von einem anderen Bild, das mir wieder und wieder in den Sinn kam. Es zeigte meine Tochter kurz nach ihrer Geburt, wie sie in den Armen meiner Frau lag. Ihr zarter Kopf, die winzigen Hände. Ein Glücksgefühl durchströmt mich, wann immer ich daran denke.

Vielleicht reißt mich schon morgen der Tod von hier fort; wer kann das wissen. Doch sollte ich alt werden, so alt und knorrig wie der Baum vor dem Fenster, der nach dem Himmel greift, als wollte er die Wolken pflücken, so alt, daß ich vergesse, wer ich bin, und alles im Dämmer versinkt, was ich je wußte und sah, jede Berührung und jedes Wort – dann wünschte ich, daß dieses Bild mir bleibt.

Als wir nach Hause fuhren (das erste Mal zu dritt), waren die Straßen voller Menschen. Irgendein Stadtfest war im Gange, und der Taxifahrer hatte Mühe, uns einen Weg durch die Menge zu bahnen.

Wenn ich im ersten Lockdown daran zurückdachte, kam es mir so vor, als hätte ich das nur geträumt. Es erschien mir so unwirklich angesichts der menschenleeren Stadt. Es war der schönste Frühling, das Sonnenlicht füllte Straßen und Plätze. Doch für das Blühen der Magnolie gab es keine Zeugen. Nur hin und wieder sah man in der Ferne eine Gestalt um die Häuser schleichen: verstohlen und mißtrauisch, maskiert wie ein Räuber.

Es war in diesen Wochen, als ich mit meiner kleinen Tochter auf dem Lüneburger Marktplatz Fußball spielte. Wo sollten wir sonst hin? Die Spielplätze waren gesperrt, rotweiße Plastikbänder flatterten über Rutsche und Klettergerüst.

Zu Hause fiel uns die Decke auf den Kopf, trotz all der Bücher, die wir vorlasen, und trotz des Schattentheaters, mit dem meine Frau eine Vorstellung nach der anderen gab. Jeden Tag von neuem setzten wir das große Puzzle zusammen, das die Arche Noah zeigte mit all den Tieren, die fröhlich dem Weltuntergang trotzten.

Vor dem Rathaus hätten noch viel mehr Tiere Platz gehabt. An Markttagen war das huckelige Pflaster überschwemmt von Blumen und Früchten; ein Farbenmeer, auf dem Inseln aus Honig, Käse, sauren Gurken, Pferdewurst schwammen. Und überall Menschen: ein Gewimmel wie vor dem Eingang eines Bienenstocks. Jetzt war da – nichts. Vielleicht das Plätschern im Lunabrunnen; aber ich glaube fast, auch das Wasser war abgestellt.

Ich winkte meiner Tochter, sie nahm ein paar Schritte Anlauf und schoß. Der rote Ball mit den weißen Punkten hopste über die Lüneburger Katzenbuckel und blieb im Nirgendwo liegen.

An Tagen wie diesen stellte ich mir vor, wie Lessing mit seinem kleinen Sohn gespielt hätte, wäre er zu einer anderen Zeit geboren worden, wäre die Zange nicht gewesen und nicht der Tod.

Jetzt, vier Jahre später, ging das Leben wieder seinen gewohnten Gang – als hätte es das alles nicht gegeben. Keinen Stillstand, keine rotweißen Absperrbänder, keine Toten in Leichensäcken. Stattdessen: Markttage, Pferdewurst, Bienenstock.

Als ich von Dresden nach Kamenz fuhr, war die S-Bahn voller Menschen. Ich erinnerte mich, daß es auch beim letzten Mal so gewesen war, im Januar 2011. Der Anlaß dieser Reise war die Verleihung eines kleinen Literaturpreises, den man mir in Lessings Namen zugesprochen hatte.

Die Laudatio hielt Katja Lange-Müller, und von den vielen schönen Sätzen, die sie wie aus einem Füllhorn über mir ausschüttete, ist mir vor allem einer in Erinnerung geblieben. Er stand am Ende einer Passage, in der sie die Felder aufzählte, auf denen ich mich tummelte, weil ich ja nicht nur schrieb, sondern auch lektorierte, erst eine Zeitschrift und dann Bücher herausgegeben hatte, Lesungen moderierte und anderes mehr.

Hier Prioritäten zu ermitteln, erklärte sie auf ihre unnachahmliche Weise, das solle man gleich bleiben lassen „und besser beherzigen, was, in solche Verlegenheit gebracht, meine Oma gerne sagte: Der Mensch ist wie eine Arche Noah; es sind alle Tiere an Bord, doch nie sind die auch alle gleichzeitig an Deck.“

Daran mußte ich denken, als ich jetzt wieder durch die Stadt ging: eine Arche Noah auf zwei Beinen, an deren Reling diesmal der Schreiber lehnte – dreizehn Jahre und ein paar graue Haare älter als der Jungspund bei dem Festakt im Kamenzer Rathaus.

Die Stürme, die seither über Bord gefegt waren, hatten ihre Spuren hinterlassen und an Illusionen mitgerissen, was sie greifen konnten. Aber immerhin: meine Füße waren noch dieselben. Mühelos fanden sie die Wege, die ich schon damals gegangen war – und entdeckten sogar ein paar neue.

An dem ziegelroten Rathaus, das an ein venezianisches Palazzo erinnert, ging ich diesmal nur vorbei. Dafür sah ich die Ausstellung im Lessing-Museum, die es beim letzten Mal noch nicht gegeben hatte. Gleich zu Beginn des Rundgangs begegnete ich der Totenmaske wieder, deren bleicher Zwilling in Wolfenbüttel in einer Schublade lag. Nur die Zange fehlte, aber ich vermißte sie nicht.

Auch eine Katze konnte ich nirgends entdecken. Aber ich hatte ja eine im Gepäck: Als man im Vorfeld gefragt hatte, was ich lesen würde, war man hocherfreut gewesen, als ich die kleine Geschichte erwähnte. Die würde in Kamenz auf offene Ohren stoßen.

Als es Abend wurde, zog ich ein frisches Hemd an und machte mich auf den Weg. Mit der Lessingbüste, die auf einer Stele mit Goldinschrift vor dem Museum stand, hatte ich schon tagsüber Zwiesprache gehalten; jetzt musterte ich sie nur flüchtig.

Kurz darauf blickte ich in erwartungsvolle Gesichter. Das Wasserglas neben meiner rechten Hand soufflierte mir mit einem Wispern.

Ich las drei Geschichten sowie ein Kapitel aus meinem noch immer unveröffentlichten Roman „Das Japanische Palais“, in dem von einem anderen Weltuntergang die Rede ist: dem Untergang Dresdens im Bombenhagel 1945. Und dann, ich hatte noch ein paar Fragen beantwortet, vielleicht zu ausführlich, die Uhrzeiger waren schon über alle Berge – las ich „Lessings Katze“.

Schon nach den ersten Sätzen stand alles wieder vor mir. Das stille Haus mit den Schubladen und der Zange. Lessing, der an Eschenburg schreibt. Die Katze auf dem Stein, die mich neugierig beäugt. Plötzlich begriff ich, daß sie mir noch immer nachging.

Aber waren es die Straßen von Wolfenbüttel, durch die sie mir folgte? Oder die von Kamenz? Während ich las, kam es mir so vor, als würden die Orte und Zeiten inein­anderfließen wie die Farben eines Gemäldes. Jeden Pflasterstein sah ich vor mir, jede Gasse, durch die ich gegangen war. Als wäre es nur ein Katzensprung zwischen damals und heute, zwischen Wiege und Bahre, zwischen Taufstein und Totenmaske.

Als ich kurz darauf in die Dunkelheit trat, stand der Mond über den Dächern. Aus einem Schornstein ringelte sich weißer Rauch.

Wir waren noch keine drei Schritte gegangen, da hörte ich hinter mir ein Geräusch. Die Katze! schoß es mir durch den Kopf. Ich fuhr herum. Aber nichts war zu sehen – und erst recht nicht zu hören. Natürlich nicht! Einen gestiefelten Kater gab es nur im Märchen.

Ich schüttelte den Kopf und mußte über mich selber lachen. Und als ich noch einmal zu der Büste hinübersah, da war mir, als würden auch Lessings Mundwinkel zucken.

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